Altstadt von Jerusalem / Foto: Wikimedia Creative Commons - Mattes

Relativitätstheorie des Verrats

Amos Oz‘ vielschichtiger Roman „Judas“

Amos Oz hat ein berührendes Buch geschrieben, das sich auf ungewöhnliche und erfrischende Weise mit der Frage der historischen Legitimität des Staates Israels auseinandersetzt. Die Geschichte spielt in einem abgeschiedenen Jerusalemer Wohnhaus, in dem im Winter 1959/60 ein entwurzelter junger Mann, ein sarkastischer Greis und eine faszinierend-geheimnisvolle Frau mittleren Alters aufeinandertreffen.

Schealtiel Abrabanel ist Judas, der Verräter. Ende der 1940er Jahre tritt er vehement für eine israelisch-arabische Aussöhnung ein, opponiert gegen den Zionisten und späteren israelischen Premierminister Ben-Gurion und gegen die Idee eines israelischen Nationalstaats. Als Politiker und Mensch ist Abrabanel getrieben von zutiefst humanistischen Idealen, er spricht fließend Arabisch und ist in Israel als „Araber-Freund“ verschrieen.

Auf die Geschichte dieses bewundernswerten Verräters stößt Schmuel Asch Jahre nach dessen Tod, im Hause von Abrabanels Tochter Atalja. Eine tiefe Sinnkrise lässt den hitzköpfigen, asthmatischen Studenten Schmuel auf eine Anzeige Ataljas reagieren, in der sie einen jungen Mann sucht, der sich gegen Kost und Logie um den körperlich behinderten, aber geistig überaus regen Gerschom Wald kümmert.

Altstadt von Jerusalem / Foto: Wikimedia Creative Commons - Mattes
Altstadt von Jerusalem / Foto: Wikimedia Creative Commons – Mattes

Schmuels Aufgabe ist es fortan, jeden Abend für fünf Stunden Gerschoms Gesprächspartner zu sein. Erst nach und nach erfährt Schmuel, in welchem Verhältnis Atalja und Gerschom zueinander stehen und warum Atalja so kühl und Gerschom so sarkastisch ist. Das Lebenstrauma, das die beiden verbindet, ist der israelische Unabhängigkeitskrieg von 1947/48, in dem Gerschoms Sohn und Ataljas Mann auf brutalste Weise verstümmelt und getötet wurde.

Dieses Trauma scheint tief in den Mauern des Hauses zu stecken und dafür zu sorgen, dass die Zeit und das Leben für die schöne Atalja und den patriotisch engagierten Gerschom stehengeblieben sind. Es ist ein zutiefst israelisches Trauma. Gerschom war zur Zeit des Unabhängigkeitskriegs glühender Verfechter eines israelischen Staates und konnte sich aufs heftigste mit dem internationalistisch orientierten Schealtiel Abrabanel streiten. Der grausame Tod des Sohnes, unverarbeitete Trauer und Schuldgefühle lassen ihn jedoch all seine Überzeugungen in Frage stellen und zum Zyniker werden. Der streitbare Pazifist Schealtiel Abrabanel, der ob der politischen Entwicklungen in Israel als gebrochener Mann gestorben ist, hat am Ende recht behalten: Der Kampf für einen israelischen Staat hat vor allem Unheil und Leid gebracht.

Der melancholisch-lakonische Grundton von „Judas“ erinnert an Amos Oz‘ früheren Roman „Mein Michael“, der ebenfalls in den Anfangsjahren des Staates Israel spielt. Interessant ist, dass Oz heute diese historische Perspektive wählt, um auf den noch immer ungelösten Israel-Palästina-Konflikt zu blicken. Seine Erzählstrategie erinnert an Brechts Theorie vom Verfremdungseffekt: Er zeigt ein Problem in einem anderen als dem gewohnten Kontext und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass diese Situation als historisch bedingt und veränderbar wahrgenommen wird. Oz schafft in „Judas“ keine expliziten Bezüge zur heutigen Situation Israels. Er erzählt einfach eine kleine Geschichte über einen politisch interessierten, etwas unsicheren jungen Mann, der in den 1950er Jahren in der Abgeschiedenheit eines alten Jerusalemer Hauses einiges über die schmerzhaften Geburtswehen Israels erfährt. Die Erkenntnis, dass vielleicht Generationen von Menschen viel Leid hätte erspart werden können, wenn sich in den 1940er Jahren Ideen wie die des (fiktiven) Schealtiel Abrabanel durchgesetzt hätten, bleibt dem Leser überlassen. Amos Oz selbst ergreift in seinem Roman keine Partei, sondern stellt die verschiedenen Ansichten und Standpunkte unkommentiert nebeneinander.

Verräter sind manchmal die besseren Menschen: Amos O' "Judas" / Abbildung: Suhrkamp
Verräter sind manchmal die besseren Menschen: Amos O‘ „Judas“ / Abbildung: Suhrkamp

„Judas“ ist weder ein politisches noch ein religiöses Manifest, sondern vielmehr eine dialektische Relativitätstheorie des Verrats. Der Student Schmuel beschäftigt sich in seiner Magisterarbeit mit „Jesus in den Augen der Juden“ und mit der Bedeutung des Judas Ischariot. Immer wieder belegt Schmuel im Laufe des Romans, dass Judas Jesus nicht aus niederen Beweggründen verraten und ans Kreuz geliefert hat, sondern vielmehr als Gläubigster unter den Jüngern dem Christentum durch den vermeintlichen Verrat erst zu seiner historischen Bedeutung verholfen hat: ohne Kreuzigung keine Auferstehung und kein Christentum. Was also auf den ersten Blick wie schändlichste Illoyalität wirkt, kann bei genauerer Betrachtung durchaus das Gegenteil sein, beim jüdischen Verräter Judas Ischariot ebenso wie beim Araber-Freund Schealtiel Abrabanel.

Diese Erkenntnis hat Amos Oz in eine melancholische Geschichte voller sinnlicher Eindrücke und symbolischer Bilder verpackt. „Judas“ ist nicht im klassischen Sinne spannend: In den Monaten, die Schmuel bei Atalja und Gerschom verbringt, passiert nicht viel: Schmuel ist am Ende um einige Erfahrungen reicher, hat sich jedoch kaum weiterentwickelt. Faszinierend ist für den Leser jedoch die Kunstfertigkeit, mit der Oz seinen Figuren Kapitel für Kapitel immer mehr Tiefe verleiht. Der Roman gleicht einem geheimnisvollen Haus, in dem sich ab und zu ein Fenster und eine Tür öffnet und Blicke auf zuvor Ungesehenes erlaubt.

Amos Oz: „Judas“, Übersetzung von Mirjam Pressler, Suhrkamp Verlag, 335 Seiten, 22,95 Euro