Cover: Diogenes

Den Schmerz zulassen

Daniela Kriens berührender, für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman „Mein drittes Leben“ ist ein Plädoyer dafür, auch in schweren Zeiten authentisch zu bleiben.

Wie geht das Leben weiter, wenn die größte Angst Realität geworden ist? Linda, die Ich-Erzählerin in Daniela Kriens neuem Roman „Mein drittes Leben“, hat das Schlimmste erlebt, was Eltern widerfahren kann: Ihre 17-jährige Tochter ist bei einem Fahrradunfall ums Leben gekommen.

Während Lindas Mann Richard irgendwann Trost darin findet, sich wieder zurück ins Leben zu kämpfen, gelingt ihr selbst das nicht. Auf den Tod der Tochter folgt bei ihr eine Krebserkrankung, die wohl immerhin erfolgreich behandelt werden konnte. Dennoch kämpft sie mit einer alles überlagernden Depression. Schlüssig fühlt sich für sie nur noch der Rückzug aus allem an, was zuvor ihr Leben ausgemacht hat. Zu Beginn des Romans ist sie aus der Familienwohnung in Leipzig ausgezogen und lebt allein auf einem alten Hof in einem „reizlosen Straßendorf“, wo sie niemand kennt. Ehemann Richard besucht seine Frau regelmäßig, doch ein Paar sind die beiden schon lange nicht mehr. 

Was an Kriens Buch beeindruckt, ist, dass es bei aller abgrundtiefen Schicksalshärte und Trauer fast eine gewisse Leichtigkeit zelebriert. Die Situation der Protagonistin ist derart hoffnungslos, dass daraus schon wieder eine Art Freiheit entsteht. Wenn sowieso alles verloren ist, kann man auch nichts mehr falsch machen. Die Erzählstimme ist dabei ehrlich bis aufs Blut, die Beschreibungen von Situationen und Gefühlen so auf den Punkt, dass man als Leser nichts anderes als tiefes, wertfreies Verständnis und Mitgefühl für diese Frau empfinden kann, der ein normaler Alltag unmöglich geworden ist. 

Am Leben halten sie die notwendigen Verrichtungen des Landlebens: Holz nachlegen, Hühner füttern, mit dem Hund rausgehen. „Mein natürliches Habitat war eine übersichtliche, mit aller Bequemlichkeit ausgestattete Stadtwohnung. Hier dagegen ist es mühsam, und mühsam ist gut. Solange die Hände in Bewegung sind, schlagen die Gedanken keine Volten, und ich überstehe die Stunden bis zum Schlafengehen.“

„Mein drittes Leben“ ist Daniela Kriens vierter Roman. Zuletzt erschienen sind der Überraschungserfolg „Die Liebe im Ernstfall“ (2019), der fünf Leipziger Frauenbiografien eindrucksvoll miteinander verwebt, und „Der Brand“ (2021), eine Ehegeschichte vor dem Hintergrund von Corona-Pandemie, Political Correctness und Genderdiskurs. Kriens Debüt „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von 2011 wurde von Emily Atef verfilmt und lief letztes Jahr auf der Berlinale. Der Roman erzählt von einer leidenschaftlichen Amour Fou zwischen einem jungen Mädchen und einem erwachsenen Mann in einem ostdeutschen Dorf im Wende-Sommer 1990.

Cover: Diogenes
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Immer wieder geht es bei Krien um Frauen und Paare in lebensverändernden Umbruchszeiten. Wie eine aufmerksame Forscherin beobachtet und beschreibt die Autorin aus nächster Nähe, wie ihre Figuren mit ihren Lebenskrisen umgehen und sich Schritt für Schritt aus ihnen herausschälen. 

Auch in „Mein drittes Leben“ findet die Protagonistin schließlich in ganz kleinen Schritten wieder zurück ins Leben. Zunächst entstehen vorsichtige Zweckverbindungen. Zur wichtigen Verbündeten wird Natascha, die durch ihre autistische Tochter massiv eingeschränkt ist und nur weniges so machen kann wie andere Menschen. Hier wirkt es, als ob Krien ihre eigene Tochter in den Roman eingeschrieben hat: Die ist seit einem frühkindlichen Impfschaden schwer behindert und lebenslang auf Unterstützung angewiesen, dabei aber wie Nataschas Tochter im Roman, hochmusikalisch und mit einem absoluten Gehör begabt. Privat ist Daniela Krien also auch Expertin für schwere familiäre Schicksalsschläge – und fürs Trotzdem-Weitermachen und den Fokus aufs Gute Richten.

Ihr Roman „Mein drittes Leben“ liest sich am Ende wie eine Ermutigung, authentisch zu bleiben und gerade in schweren Zeiten nichts zu erzwingen. Die Protagonistin gibt dem Schmerz Zeit, und genau das macht schließlich wieder Raum frei für Liebe und Verbundenheit.

Daniela Krien: „Mein drittes Leben“, Diogenes, 304 Seiten, 26 Euro, als E-Book für 22,99 Euro

Dieser Text ist zuerst in der Münchner Abendzeitung vom 21.8.2024 erschienen.