Faszinierende Abgründe

Ottessa Moshfeghs düsterer Roman „Eileen“

Die junge amerikanische Autorin beeindruckt in ihrem zweiten Roman mit einer nicht besonders liebenswürdigen Heldin. Eileen ist 24, knochendürr und ziemlich verklemmt. Sie lebt Mitte der 1960er Jahre mit ihrem alkoholkranken Vater in einem amerikanischen Ostküstenstädtchen und arbeitet in einer Justizvollzugsanstalt für jugendliche Straftäter. 

Gedanken an jegliche Form von Körperlichkeit oder gar Sexualität verunsichern sie zutiefst – und faszinieren sie zugleich unmäßig. Sie trägt mehrere Lagen Unterwäsche übereinander, damit ihre Körperformen von außen nur zu erahnen sind, und träumt gleichzeitig von ihrer gewaltsamen Entjungferung – am besten durch den muskelbepackten Gefängniswärter Randy.

Ottessa Moshfegh hat in ihrem neuen Roman eine Protagonistin geschaffen, an der vieles abstoßend wirken könnte. Dennoch erscheint Eileen nicht als Freak, mit dem man lieber nichts zu tun haben möchte, sondern als komplexe Persönlichkeit, über deren Abgründe man mehr erfahren möchte. Moshfegh begegnet ihrer Figur auf Augenhöhe, lässt sie selbst mit ungefilterter Ehrlichkeit erzählen. So wird das Abstoßende verständlich und nachvollziehbar.

Schon im ersten Kapitel erfährt der Leser, dass es um Eileens Verschwinden aus ihrer Heimatstadt gehen wird. Das Wissen darum, dass es der jungen Frau am Ende gelingen wird, ihren Alltag voller Tristesse und Doppelmoral hinter sich zu lassen, hat etwas Versöhnliches.

Eileen träumt bereits seit Jahren von ihrer Flucht, weg von der Kleinstadt, der Arbeit im Gefängnis und dem neurotisch-tyrannischen Vater. Was sie daran hindert, diese Wunschträume in die Tat umzusetzen, ist die Tatsache, dass eine konkrete Alternative fehlt. Die taucht schließlich auf, in Form einer jungen, wunderschönen Frau, die in der Justizvollzugsanstalt als „Erziehungsbeauftragte“ anfängt und alles anders macht, als man es dort normalerweise macht. Sie behandelt jugendliche Mörder als Menschen und sucht nach den Ursachen ihrer Verbrechen. Und sie begegnet der unscheinbaren Eileen mit freundschaftlichem Respekt und behandelt sie als ebenbürtige Frau, Kollegin und Mitstreiterin.

Düster, aber nicht in schwarz-weiß gezeichnet: Ottessa Moshfeghs "Eileen" / Cover: Liebeskind
Düster, aber nicht in schwarz-weiß gezeichnet: Ottessa Moshfeghs „Eileen“ / Cover: Liebeskind

Dass die schöne Rebecca Eileen schließlich ungefragt zu ihrer Verbündeten in einem Akt von Selbstjustiz macht und sie ausgerechnet dadurch zur Flucht aus ihrer ungeliebten Heimatstadt bringt, ist die düstere emanzipatorische Pointe der Geschichte. Einerseits nutzt Rebecca Eileen schamlos aus. Andererseits zwingt die selbstbewusste und aktive junge Frau ihre ängstliche und neurotische Komplizin genau auf diese Weise, ihr Schicksal endlich selbst in die Hand zu nehmen.

Ottessa Moshfegh ist mit ihrem zweiten Roman „Eileen“ ein sehr beeindruckendes Buch gelungen. Immer wieder lässt sie in einfachen Worten eingängige Bilder entstehen. Nach allen Regeln der Kunst baut sie Spannung auf, ohne dass die Geschichte dabei konstruiert wirkt. Und nicht zuletzt vollbringt sie das Kunststück, eine ziemlich sonderbare und nicht besonders liebenswürdige Heldin zur absoluten Identifikationsfigur werden zu lassen. Eine gewinnbringende Lektüre.

Ottessa Moshfegh: „Eileen“, Liebeskind, 336 Seiten, 22 Euro