Der Kampf der Künstlerin

Whitney Scherers packender biografischer Roman „Die Zeit des Lichts“ über die Fotografin Lee Miller

Lee Miller, die mit dem Armschutzgitter eines Fechters posiert. Lee Miller, elfenhaft nackt vor Man Rays Schlafzimmerfenster in Paris. Lee Miller als Kriegsfotografin in grober Militäruniform. Und Lee Miller in Hitlers Badwanne in München. Diese Bilder lässt die amerikanische Journalistin Whitney Scharer in ihrem Debütroman „Die Zeit des Lichts“ vor dem inneren Auge des Lesers entstehen.

Man glaubt, diese real existierenden Fotos zu kennen, egal, ob man sie jemals gesehen hat oder nicht. In eindrucksvollen – teils fiktiven, teils historisch belegten – Episoden erzählt Scharer die wechselhafte Lebensgeschichte der Künstlerin, Fotografin und Reporterin Lee Miller.

Im Prolog des Romans begegnet der Leser der Protagonistin im Jahr 1966, als sie mit ihrem Mann Roland Penrose im englischen Sussex auf dem Land lebt, alkoholabhängig ist und, wenn überhaupt, nur noch Kochkolumnen schreibt. Diese von Depression und Perspektivlosigkeit gebeutelte Frau bekommt das Angebot, einen Artikel über ihre Zeit mit dem Surrealisten Man Ray im Paris der frühen 1930er Jahre zu schreiben. 

Die Tür zur Vergangenheit geht auf, und es erscheint eine ganz andere Lee Miller: jung, lebenshungrig und voller Tatendrang und künstlerischem Ehrgeiz. Mit 19 ist sie 1926 in New York buchstäblich auf der Straße als Fotomodell entdeckt worden. Drei Jahre später kommt sie nach Paris, um Künstlerin zu werden. Sie wird Assistentin des Surrealisten und Fotografen Man Ray, später seine Muse und Geliebte. 

In pointierten Szenen und Dialogen beschreibt Whitney Scharer das Leben der Pariser Bohème der späten 1920er und frühen 1930er Jahre. Lee lernt André Breton, Tristan Tzara, Paul Élouard und viele andere kennen und spielt in Jean Cocteaus Film „Das Blut eines Dichters“ mit. Als Fotografin und Künstlerin wird sie immer besser und kreativer, dennoch gelingt es ihr nie ganz, aus dem Schatten ihres berühmten Geliebten herauszutreten.  

Lee Millers Pariser Zeit erzählt vom schmerzhaften Emanzipationsprozess einer leidenschaftlichen und begabten jungen Frau, die darum kämpft, nicht nur für ihre Schönheit geliebt sondern auch als Künstlerin wahrgenommen und anerkannt zu werden. 

Die Episoden aus dem Zweiten Weltkrieg und aus den 1960er und 1970er Jahren, die Whitney Scharer in ihrem Buch der Pariser Zeit entgegenstellt, komplettieren das Porträt einer faszinierenden Frau, deren Suche nach ihrem Platz in der Welt zeitlebens nicht endet.

Während des Zweiten Weltkriegs ist Lee als Kriegsfotografin in Europa unterwegs. Als andere amerikanische Reporter und Fotografen sich nach Kriegsende wieder aus Europa zurückziehen, bleibt Lee; sie spürt, dass der Krieg im Leben der Menschen noch nicht vorbei ist. Ihre Bilder gehen um die Welt, doch der Krieg hat Lee Miller hart gemacht und etwas in ihr zerstört. 

Begabt, schön und unnahbar: Whitney Scharers "Die Zeit des Lichts" macht neugierig auf die Protagonistin Lee Miller / Abbildung: Klett-Cotta
Begabt, schön und unnahbar: Whitney Scharers „Die Zeit des Lichts“ macht neugierig auf die Protagonistin Lee Miller / Abbildung: Klett-Cotta

So kompliziert Lee Millers Leben war, so zugänglich ist Whitney Scharers bildhafte und sinnliche Erzählweise in „Die Zeit des Lichts“. Sie schafft eine große Nähe zu der auf Bildern so unnahbar wirkenden Künstlerin, ohne je zu vereinfachen oder zu banalisieren. Ein packender Roman, der Lust macht, sich weiter mit dem Leben und Wirken seiner Protagonistin zu befassen. 

Whitney Scharer: „Die Zeit des Lichts“, Klett-Cotta, 392 Seiten, 22 Euro, E-Book: 17,99 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung erschienen.