Aufwühlend-treibender Rhythmus: Ocean Vuongs Debütroman "Auf Erden sind wir kurz grandios" / Abbildung: Hanser Verlag

Erhebung über die Banalität des Schmerzes

Ocean Vuongs großartiger Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“

Eine Mutter, die im Nagelstudio schuftet und ihrem Sohn die Legokiste an den Kopf wirft, das Parkett blutgesprenkelt. Zwei Halbwüchsige beim ersten Sex in einer Scheune, zwanghaft erhebend für den einen, schmerzhaft und demütigend für den anderen.

Solche Bilder von nackter, brutaler Intensität prägen den Erzählfluss von Ocean Vuongs Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“. Gefühle der Liebe und Verbundenheit sind stark, haben aber immer mit Schmerz, Verletzlichkeit und Demütigung zu tun. Vuongs Sprache erinnert an vielen Stellen an den aufwühlend-treibenden Rhythmus von Allen Ginsbergs Gedicht „Howl“ („Das Geheul“), sie ist gleichzeitig schonungslos explizit und hochpoetisch.

Zu Recht wird Vuong derzeit als Wunderkind der amerikanischen Literaturszene gefeiert. Sein Gedichtband „Night Sky with Exit Wounds“ („Nachthimmel mit Austrittswunden“), der drei Jahre vor dem Romandebüt erschien, hat zahlreiche Preise gewonnen. Und den Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ zählte die britische Zeitung The Guardian zu den „meist erwarteten Büchern 2019“.

Vuong wurde 1988 in Saigon, Vietnam, geboren und kam im Alter von zwei Jahren in die USA. Er wuchs in Hartford, Connecticut, auf, wo auch ein Großteil seines Romans spielt.

„Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist ein Brief, den Vuongs literarisches Ich an seine Mutter richtet, die diesen jedoch nie lesen wird, weil sie Analphabetin ist. Immer wieder bezieht sich der Erzähler auf Szenen seiner Kindheit und Jugend: die Mutter im Nagelstudio, die Mutter in der Küche voller Sorge um ihren Sohn, die Mutter wunderschön zurecht gemacht im Einkaufszentrum.

Manches wagt er nur deshalb zu erzählen, weil er weiß, dass sie es nie lesen wird: seine ersten sexuellen Erfahrungen mir seiner Jugendliebe Trevor etwa oder die verrückten Auto- oder Fahrradfahrten im Drogenrausch.

Aufwühlend-treibender Rhythmus: Ocean Vuongs Debütroman "Auf Erden sind wir kurz grandios" / Abbildung: Hanser Verlag
Aufwühlend-treibender Rhythmus: Ocean Vuongs Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ / Abbildung: Hanser Verlag

Ocean Vuong erzählt episodenhaft, dennoch bildet alles eine starke Einheit, jedes Bild, jeder Eindruck wird an anderer Stelle noch einmal aufgegriffen. Immer wieder geht es neben dem Leben in den USA auch um die Vorgeschichte der Familie in Vietnam, um die Großmutter, die zu Zeiten des Krieges aus einer Zwangsehe flieht und sich in einen amerikanischen Soldaten verliebt, um die Mutter, die immer noch die Schrecken des Krieges in sich trägt.

Die fassungslose Trauer über den Tod des einstigen Geliebten, der mit 22 an einer Überdosis stirbt, als der Ich-Erzähler die Stadt längst verlassen hat, um in New York zu studieren, vermischt sich am Ende mit einer lange gewachsenen Melancholie im Bezug auf die eigene Familiengeschichte.

Und immer wieder geht es dabei ums Schreiben, darum, dass das Schreiben Trost, Halt und Zuflucht geben kann. Diese Botschaft spricht so stark und würdevoll aus jeder Zeile des Romans, dass sie alles Beschriebene erträglich macht. Indem er die Dinge aufschreibt für seine kämpfende, über alles geliebte Mutter, erhebt sich der Erzähler über die Banalität des Schmerzes. Trotz aller Schwere des Erzählten entwickelt der Roman auf diese Weise eine positive Dynamik, die mitreißt und fasziniert. Am liebsten möchte man ihn in einem Rutsch durchlesen.

Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios, Hanser Verlag, 237 Seiten, 22 Euro (E-Book 16,99)

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung erschienen.