Abbildung: S. Fischer

Folgenreiche Lebensentscheidungen

Anika Landsteiners Roman „Nachts erzähle ich dir alles“ ist anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur par excellence.

So, wie Anika Landsteiner schreibt, muss anspruchsvolle und berührende Unterhaltungsliteratur sein! „Nachts erzähle ich dir alles“ ist der dritte Roman der Münchner Schriftstellerin, Journalistin und Podcasterin, nach „Mein italienischer Vater“ und „So wie du mich kennst“. Thematisch kreist Landsteiner in ihren Büchern immer wieder um Liebe, Tod und Selbstbestimmung. Sie bearbeitet diese universellen Felder mit Leichtfüßigkeit und Lebendigkeit, ohne je trivial zu werden. 

Auch der aktuelle Roman ist zugänglich geschrieben, vergnüglich zu lesen und verhandelt kontroverse Themen. Es geht um einen Sommer an der Cȏte d’Azur, ungeplante Schwangerschaften, Schwangerschaftsabbrüche, Liebesbeziehungen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen. Und um den unerwarteten Tod eines Menschen, mit dem alle Betroffenen heillos überfordert sind.

Die Protagonistin Léa ist Mitte 30. Nach Monaten voller Liebeskummer und Jahren voller harter Arbeit in ihrem Münchner Café bekommt sie von ihrer Mutter einen Erholungsurlaub auf dem Familienanwesen an der Cȏte d’Azur verordnet. Diese Ferien werden für Léa auch zur Zeitreise in die eigene Kindheit und in die Jugend ihrer Mutter. 

Bald jedoch wird sie von den Geschichten der eigenen Familie abgelenkt und in ein fremdes Familiendrama involviert: Ein ihr bis dahin unbekanntes junges Mädchen, das Léa eines Nachts überraschend in ihrem Garten besucht hat, liegt am Tag darauf auf der Intensivstation und stirbt kurze Zeit später. Émilie, der Bruder des Mädchens und ein berühmter Pariser Podcaster, leidet unsäglich unter dem Schweigen in seiner Familie und macht sich auf Spurensuche. Mit Léas Hilfe will er alles über die letzten Tage und Monate seiner Schwester herausfinden. 

In Léa und dem zehn Jahre jüngeren Émile begegnen sich zwei verletzte Seelen, die einander zeitweise Halt geben und sich andererseits gegenseitig immer wieder ganz schön ins Schwanken bringen. Von Komplizen in der Sache werden die beiden zum Liebespaar. Ihre Beziehung trägt die ganze Leichtigkeit eines mediterranen Sommers und die ganze Schwere ihrer unterschiedlichen Lebensbedingungen und des Todes von Émiles Schwester in sich. 

Insgesamt besticht „Nachts erzähle ich dir alles“ durch die lebendig gezeichneten Charaktere und ihre geistreichen Dialoge. Die Erzählung spitzt sich dabei immer mehr auf folgenreiche Lebensentscheidungen zu.

Brigitte, Léas Mutter, hat im Alter von 18 Jahren nicht gezögert, ihr ungeplantes Kind zu bekommen. Ihre französische Freundin Claire hat irgendwann beschlossen, ihre Homosexualität nicht offen zu leben und einen guten Freund zu heiraten. Und Émile entscheidet, die tragische Geschichte seiner Schwester nicht öffentlich zu erzählen, und stattdessen andere Wege zu finden, ihren Angelegenheiten Gehör zu verschaffen. 

Diese Figuren des Romans scheinen der Protagonistin, die gerade versucht, eine Auszeit von ihrem eigenen Leben zu nehmen, eines ganz klar aufzeigen zu wollen: Letztendlich geht es immer um integre Entscheidungen, bei denen es kein objektives Richtig oder Falsch gibt. Alles dreht sich immer wieder allein darum, zu entscheiden und die Konsequenzen zu tragen. 

Am Ende gelingt es den Charakteren von „Nachts erzähle ich dir alles“, ihr Leben und Lieben ein bisschen offener, freier und vor allem bewertungsfreier werden zu lassen. Es geht um den feinen „Unterschied zwischen der Tatsache, eine Person zu lieben, und dem Wunsch, von eben dieser Person zurückgeliebt zu werden“ – und darum, dass es sich lohnen könnte, die Liebe, dieses „opulente Gefühl, das überhaupt keine Grenzen kennt“, von der „kleinen egoistischen Erwartungshaltung“ zu befreien. Ein versöhnliches Happy End für einen wunderbaren Roman, der unter vielen Aspekten lesenswert ist. 

Anika Landsteiner: „Nachts erzähle ich dir alles“, Fischer, 366 Seiten, 24 Euro, E-Book 16,99 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung erschienen.