Der Traum vom kleinbürgerlichen Glück

Nicolas Mathieus vielschichtiger Gesellschaftsroman „Wie später ihre Kinder“

Sengende Sommerhitze, die Veränderung unmöglich macht – das ist die Atmosphäre, in der Nicolas Mathieu seinen Roman „Wie später ihre Kinder“ spielen lässt. Matthieu erzählt über vier Sommer in den 1990er Jahren hinweg die Geschichte seiner jugendlicher Protagonisten und ihrer Eltern in der fiktiven lothringischen Stadt Heillange. Heillange (angelehnt an das reale Hayange) ist nach dem Niedergang der Stahlindustrie, die den Landstrich über Jahrhunderte hinweg geprägt hat, ein trostloser Ort geworden. 

Die Väter sind arbeitslos, trinken oder sind gar nicht mehr bei den Familien. Die Jugendlichen wollen etwas erleben, das sie über die Tristesse erhebt, stoßen aber immer wieder an ihre Grenzen. Sie hängen rum, prügeln sich, trinken, dealen und nehmen Drogen. Und ab und zu wird mal ein Motorrad geklaut. 

Mit einem solchen Diebstahl beginnt „Wie später ihre Kinder“. Der 14-jährige Anthony und sein Cousin wollen unbedingt zu einem Fest ein paar Orte weiter. Heimlich nehmen sie die Yamaha von Anthonys Vater, die dieser wie seinen Augapfel hütet. Und prompt wird die Maschine während der ausschweifenden Party gestohlen. Der Dieb ist Hacine, auch ein Jugendlicher ohne große Perspektive, Sohn eines marokkanischen Gastarbeiters, der mangels besserer Alternativen Spaß daran findet, andere einzuschüchtern. 

Der Diebstahl hat sowohl für Anthony als auch für Hacine weitreichende Folgen. Er macht sie zu Gegenspielern im Kampf um ein Leben, das irgendwie funktioniert. 

Immer wieder scheint es, als wäre es ihnen gelungen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden: Hacine gibt den gefährlichen Drogenhandel auf, hat einen Job, eine Wohnung und eine Freundin, mit der er glücklich ist. Und Anthony hat zumindest Sex mit dem Mädchen, das er früher nur aus der Ferne bewundert hat, und freut sich auf seinen Militärdienst, der ihn endlich rausbringt aus Heillange. 

Aber die Ansätze des kleinbürgerlichen Glücks werden immer wieder im Keim erstickt. Am Ende ist zwar jeder erwachsener geworden, sitzt aber nach wie vor in Heillange fest. 

Anfangs hat man als Leser nicht recht Lust, sich auf die Figuren und ihre perspektivlose Tristesse einzulassen, von Seite zu Seite jedoch wird man immer mehr zum Mitwisser und Komplizen, schon weiß man zu viel, um einfach wieder aussteigen zu können. 

„Wie später ihre Kinder“ ist ein hochpolitisches Buch, das seinem bislang relativ unbekannten Autor im vergangenen Jahr den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt, eingebracht hat. 

Der Roman erzählt viel über die immanenten Widersprüche der französischen Gesellschaft. Und er lässt auf exemplarische Weise greifbar werden, wie in riesigen Milieus ehemaliger Industrienationen das Gefühl, „abgehängt“ worden zu sein, entstehen kann. 

Mathieu beschreibt eine Gesellschaft im Leerlauf. Es gibt nichts Sinnvolles zu tun, schon gar nichts, das irgendwie identitätsstiftend wäre. Arbeiter werden zu Trinkern, Gewerkschafter zu Front-National-Wählern und lebenshungrige Jugendliche zu Dealern und Dieben, falls sie nicht doch noch bei einer Zeitarbeitsfirma in Lohn und Brot kommen. Mathieu beschreibt dies alles, ohne jemals plakativ oder polemisch zu werden.

Im Gewand einer Coming-of-Age-Geschichte hat er einen großen Gesellschaftsroman geschrieben, der einen nicht mehr los lässt. 

Nicolas Mathieu: „Wie später ihre Kinder“, Hanser, 448 Seiten, 24 Euro, E-Book 17,99 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung vom 26.8.2019 erschienen.