Im Untergrund

Colson Whiteheads fantastisch-realistischer Roman „Underground Railroad“

Auf der Flucht vor ihren Verfolgern fährt Cora immer wieder mit dem Zug, zuerst im Güterwaggon, dann auf einem offenen Flachwagen und schließlich in einem richtigen Passagierwagen, quer durch die amerikanischen Südstaaten, immer im Untergrund. Colson Whitehead schafft in seinem Roman „Underground Railroad“ ein allegorisches Bild. Die historische amerikanische Underground Railroad war keine Eisenbahn sondern ein Netzwerk von Fluchthelfern, mit deren Unterstützung flüchtige Sklaven im 19. Jahrhundert aus den Süd- in die Nordstaaten gelangen konnten. Whitehead macht kurzerhand ein echtes Bahnliniennetz daraus, das komplett durch unterirdische Tunnels verläuft. 

Seine Protagonistin Cora ist als Sklavin auf einer Baumwollplantage in Georgia geboren. Mit Hilfe der Underground Railroad gelingt ihre Flucht – und es beginnt eine Odyssee durch die Vereinigten Staaten. Immer wieder wiegt sich die junge Frau in Sicherheit. In anderen Bundesstaaten, wo niemand ihre Herkunft kennt, kann sie kurzfristig ein Leben als freie Frau führen, in South Carolina als Kindermädchen und in Indiana als Mitglied einer von Abolitionisten aufgebauten Farm. Immer wieder jedoch zerschlägt sich diese Illusion auf brutale Art und Weise, bis sie am Ende tatsächlich den sklavereifreien Norden der USA erreicht.

Colson Whitehead arbeitet in seinem Roman mit einer Art fantastischem Realismus, der geschichtlich Belegtes mit frei Erfundenem und Unrealistischem kombiniert. Allein die Existenz eines unentdeckt unter der Erde fahrenden Zuges ist in der Anfangszeit der Eisenbahn im 19. Jahrhundert kaum vorstellbar. Ob Whiteheads Buch noch stärker wäre, wenn es seinem akribischen Realismus keine unhistorischen Erfindungen zur Seite stellen würde, wurde von der Kritik viel diskutiert.

Dabei geht diese Fragestellung am eigentlichen Wesen des Romans vorbei. Nicht um die historisch einwandfreie Darstellung eines grausamen Kapitels der amerikanischen Geschichte geht es hier, vielmehr um die Veranschaulichung, das Spürbarmachen einer von Menschen hervorgebrachten Idee in ihrer ganzen Wahnwitzigkeit. „Underground Railroad“ beeindruckt auf der emotional-atmosphärischen Ebene. Man erlebt auf jeder Seite ganz unmittelbar den erbarmungslosen Wahnsinn, den die Versklavung von Menschen hervorbringt.

Simpler Titel für ein vielschichtiges Buch: Underground Railroad / Cover: Hanser
Simpler Titel für ein vielschichtiges Buch: Underground Railroad / Cover: Hanser

Kaltblütige Ermordungen beschreibt Whitehead mit derselben Beiläufigkeit wie freudige Vorbereitungen von Festen. Gleichzeitig moralisiert er nie, er lässt Facetten zu, lässt Sklaven furchtbar und gewalttätig werden, macht das Verhalten weißer Unterdrücker an vielen Stellen verstehbar.

In den USA war „Underground Railroad“ in der vergangenen Saison der Roman der Stunde. Er wurde sowohl mit dem National Book Award 2016 als auch mit dem Pullitzer-Preis 2017 ausgezeichnet. Oprah Winfrey und Barack Obama haben ihn als eines der besten Bücher bezeichnet, die sie je gelesen haben.

Die Sklaverei ist neben Vertreibung der Ureinwohner die große amerikanische Erbsünde, die in rassistischer Gewalt gegen Schwarze vielerorten weiterlebt. Hierzulande mögen soziale Konflikte und Erbsünden andere sein. Colson Whiteheads Buch jedoch ist unabhängig von konkreten politischen Entwicklungen eine gewinnbringende und gewissermaßen zeitlose Lektüre.

Colson Whitehead: „Underground Railroad“, Hanser Verlag, 352 Seiten, 24 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung erschienen.