Rachegöttin im Fiebertraum

Mit „Animal“ hat die Bestseller-Autorin Lisa Taddeo ein fesselndes und in sich schlüssiges Buch über das Lebenstrauma einer sexbessenenen Frau geschrieben.

Ein Mann, der sich aus Liebe zu einer Frau erschießt. Das weiße Kleid einer toten Mutter, das am Ende der Geschichte rot ist. Und Kojoten, die das Menstruationsblut von Frauen riechen und danach lechzen, noch bevor die Blutung überhaupt einsetzt.

Lisa Taddeos neues Buch „Animal“ ist voller mythisch aufgeladener Leitmotive, die an ein antikes Drama erinnern. Diese wiederkehrenden Bilder ziehen den Leser in ihren Bann. Ebenso wie die spannend durchkonstruierte Geschichte, in der jede Episode als Spiegelung einer anderen, vergangenen erscheint.

Die Protagonistin Joan ist auf der Flucht, auf der Flucht vor ihren eigenen traumatischen Erinnerungsbildern. Und auf der Suche nach der Erlösung von diesen Erinnerungen.

Nach dem spektakulären Selbstmord ihres verheirateten Geliebten rast sie wie eine Besessene allein mit dem Auto von New York nach Los Angeles. Dort möchte sie ihre Halbschwester Alice finden. Alice entstammt einer außerehelichen Affäre von Joans Vater und ist für Joan seit jeher ein gleichermaßen düsteres wie schillerndes Mysterium. Warum genau sich die Protagonistin von der Begegnung mit ihr Erleichterung im Bezug auf ihre Lebenstraumata verspricht, erfährt der Leser gegen Ende der Geschichte.

Anfangs glaubt man, der Horror, vor dem Joan flieht, ist der Geliebte, der sich in einem New Yorker Restaurant vor ihren Augen umgebracht hat. Nach und nach wird jedoch klar, dass diese Erfahrung nur als Spiegelbild eines viel schlimmeren Erlebnisses fungiert: Joan hat früh ihre Eltern verloren – auf welch grausame Weise, das löst die Erzählerin ebenfalls gegen Ende des Romans auf.

Viel schlüssiger durchkonstruiert als der Vorgänger „Three Women“: Lisa Taddeos moderne Tragödie „Animal“. Cover: Piper

Daran, dass Joans Sucht nach Sex und emotionaler Machtausübung ihrem seit jeher unbefriedigten Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit entspringt, lässt Lisa Taddeo jedoch von Anfang an keinen Zweifel. Wie schon in Taddeos erstem, nonfiktionalen Buch „Three Women“, in dem sie das von extremen emotionalen Zwängen geprägten Liebesleben dreier real existierender Amerikanerinnen porträtiert, rotiert auch in „Animal“ die ganze Handlung um Sex, Macht und Abhängigkeit.

Der fiktionale, konstruierte Charakter tut dem aktuellen Buch sehr gut. Während in „Three Women“ die hautnahe, dabei jedoch nie voyeuristische Darstellung des aufwühlenden Sexuallebens der Frauen an sich im Vordergrund steht, bekommen die sexualisierten Machtkämpfe in „Animal“ eine dramaturgische Funktion in einer tragischen Geschichte. Wie im klassischen Drama fungieren sie als handlungsauslösende Momente.

Was Taddeo in „Animal“ erzählt, mag unrealistisch und ziemlich dick aufgetragen sein, aber das Gesamtkonstrukt und der eindrucksvolle, sinnliche Symbolismus funktionieren. Ein vielschichtiges Buch das in seiner Besessenheit zugleich nervt und fasziniert. Auch wenn man stellenweise genug hat von der sexsüchtigen Protagonistin, will man doch zu jedem Zeitpunkt unbedingt wissen, wie es weitergeht. Und am Schluss gibt es tatsächlich eine erlösende Katharsis.

„Animal“ erzählt von sinnlichen Frauen, erstarrten Ehen, egoistischen Männern, heimlichen Affären, emotionalen Machtkämpfen, sexueller Unersättlichkeit, der Sehnsucht nach Geborgenheit, Schwangerschaften, Fehlgeburten und nicht zuletzt von mütterlicher Liebe.

Auch wenn Taddeos Sichtweise oft ein wenig klischeehaft erscheint, so sprechen die Themen in ihrer Universalität doch an. Als Ganzes betrachtet ist „Animal“ eine fesselnde Lektüre um eine moderne weibliche Rachegöttin im mörderischen Fiebertraum.

Lisa Taddeo: „Animal“, Piper, 416 Seiten, 22 Euro, E-Book 18,99 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung vom 1.10.2021 erschienen.