Die Kraft der Vergebung

Die vietnamesische Autorin und Journalistin Nguyễn Phan Quế Mai erzählt in ihrem ersten auf englisch veröffentlichten Roman „Der Gesang der Berge“ eine beeindruckende Familiensaga im Spiegel der vietnamesischen Geschichte.

Der Vater ist verschollen, die Mutter kehrt schwer traumatisiert aus dem Krieg zurück, der Onkel verstümmelt ohne Beine. Das Leben, das Nguyễn Phan Quế Mai in „Der Gesang der Berge“ beschreibt, ist geprägt von Verlusten und unendlichem Schmerz. Dennoch erzählt das Buch auch eine Geschichte von Hoffnung und Vergebung.

Die Ich-Erzählerin Huong lebt mit ihrer Großmutter in den 1970er Jahren in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi. Die Großmutter, deren Lebensgeschichte im Wechsel mit der ihrer Enkelin erzählt wird, ist die eigentliche Protagonistin des Romans. Sie stammt aus einer wohlhabenden Familie, verliert aber bereits als junge Frau einen Großteil ihrer Angehörigen und ihres Besitzes. Den Vater töten japanische Soldaten, die Mutter fällt während der Großen Hungersnot von 1945 einem jähzornigen Großgrundbesitzer zum Opfer. Und ihr Ehemann wird zehn Jahre später von den kommunistischen Viet Minh vergiftet, weil er sich gegen ein Ein-Parteien-System ausspricht.

Im Zuge der kommunistischen Landreform werden die Großmutter und ihre Kinder auf grausame Weise von ihrem Hof vertrieben und sind von da an auf der Flucht. Unter widrigsten Bedingungen gelangt die Großmutter mit ihrem jüngsten Sohn nach Hanoi und schlägt sich als Hausangestellte durch.

Das Ausmaß des Unrechts, das dieser stolzen, integren Frau widerfährt, empfindet man als unerträglich. Umso beeindruckender ist, wie unerschütterlich sie sich an ihren buddhistischen Glauben hält und wie eine Löwin um jedes ihrer Kinder kämpft. Sie ist undogmatisch und pragmatisch, stark und fleißig, auch im späteren Leben mit ihrer Enkelin Huong.

Ihren Beruf als Lehrerin gibt sie auf, weil sie ihren Schülern nicht ausschließlich kommunistische Parteidisziplin vermitteln will. Um genug Geld für ein Haus für sich und ihre Familien zusammen zu bekommen, wird sie Händlerin und nimmt damit die gesellschaftliche Ächtung durch alle in Kauf, die den Kommunisten nahe stehen.

„Der Gesang der Berge“ ist eine lebhaft erzählte Familiensaga, die in Schlaglichtern die ganze vietnamesische Geschichte des 20. Jahrhunderts beleuchtet: die französische Kolonialherrschaft, den zweiten Weltkrieg, der Vietnam verstärkt unter Japans Einfluss bringt, den Indochinakrieg, der das Land in zwei Staaten teilt, und schließlich den von 1955 bis 1975 dauernden Vietnamkrieg. Die Familie von Huong und ihrer Großmutter gerät im Laufe der Geschichte unverschuldet zwischen alle Fronten.

Die Jahrzehnte der politischen Auseinandersetzungen erscheinen in „Der Gesang der Berge“ als lebensfeindlicher Zustand, in dem am Ende alle verlieren. Nguyễn Phan Quế Mai lässt dabei den Konflikt zwischen politischen Ideologien eher in den Hintergrund treten und konzentriert sich statt auf kämpferische Rhetorik auf poetische Plädoyers für das Leben.

Oft erscheint die Lage komplett hoffnungslos und verfahren, und doch tauchen am Horizont immer wieder Hoffnungsschimmer auf. Viele Knoten der Geschichte lösen sich durch Liebe und bedingungslose Zuneigung. Huongs traumatisierte Mutter und ihr beinamputierter Onkel Dat finden nur wieder ins Leben zurück, weil Huong und ihre Großmutter sie mit aller Kraft dorthin zurück ziehen und sie nicht verwahrlosen lassen.

„Der Gesang der Berge“ bewegt sich nahe an Nguyễn Phan Quế Mais eigener Familiengeschichte und beeindruckt durch den besonnenen Kampfgeist und die innere Stärke der Protagonistin. Der Roman ist eine sehr lesenswerte und kraftvolle Ermutigung, auch in schwierigen Zeiten Haltung zu zeigen und durch Vergebung in die eigene Lebensfreude zurück zu finden.

Nguyễn Phan Quế Mai: „Der Gesang der Berge“, Suhrkamp Insel, 429 Seiten, 23 Euro, E-Book 19,99 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung vom 22.12.2021 erschienen