Im Herzen Ezidin

Ronya Othmanns überzeugender Debütroman „Die Sommer“

Der Vater sitzt in der Küche, trinkt Tee, kaut Sonnenblumenkerne und erzählt. Diese Szene kehrt immer wieder in Ronya Othmanns Debütroman „Die Sommer“. Die Protagonistin Leyla wächst als Tochter eines ezidischen Kurden und einer Deutschen in Bayern auf und lernt das Heimatdorf ihres Vaters im Norden Syriens nur durch Ferienaufenthalte und durch die Erzählungen des Vaters kennen. Die Großeltern, Tanten und Onkel erleben dort immer wieder ethnische und religiöse Diskriminierung und Verfolgung. Leylas Vater wurde in die Religionsgemeinschaft der Eziden hineingeboren, ist selbst aber Kommunist und nicht gläubig. Die Willkür des syrischen Präsidenten Assad und seiner Anhänger zwang ihn einst zur Flucht nach Deutschland.

Der erste Teil des Romans erzählt von Leylas Kindheit, die weitestgehend friedvoll verläuft. In den Geschichten ihres Vaters geht es zwar auch um staatlichen Übergriffe, Landminen und Schwarzhandel, doch das Mädchen ist von all dem weit weg. Bei ihren eigenen Aufenthalten im Dorf ihrer Großeltern fühlt sie sich meist sicher und geborgen.

Othmanns Roman enthält viele Fragmente ihrer eigenen Biografie. Die Autorin wurde 1993 in München als Tochter eines deutsch-kurdischen Paares geboren. Sie studiert am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und schreibt Lyrik, Prosa und Essays. Gemeinsam mit der ebenfalls deutsch-kurdischen Publizistin Cemile Sahin kommentiert sie in der „Kolumne Orient Express“ der tazregelmäßig die Situation im Nahen und Mittleren Osten und die deutsche Außenpolitik. 

Ihr Roman „Die Sommer“ greift viele Motive ihres Textes „Vierundsiebzig“ auf, mit dem sie 2019 den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gewonnen hat. In diesem wenige Seiten umfassenden Text schildert Othmann auf eindrucksvolle Weise, wie ihre ezidische Familie in Nordsyrien die jüngsten Massaker von 2014 und 2019 erlebt und wie sie selbst die Situation zunächst von Deutschland aus und später in Syrien verfolgt.

Der Kurztext „Vierundsiebzig“ ist ein ebenso persönliches wie politisches Manifest, ein Appell, hinzuschauen und das Schicksal hunderttausender zu Unrecht verfolgter Menschen nicht zu ignorieren. Und im zweiten Teil entwickelt sich auch der Roman „Die Sommer“ zu einem solchen Appell. Hier wird der Erzählfluss dynamischer und drängender. Leylas Vater erlebt zunächst die Zeit des „Arabischen Frühlings“ als eine Phase großer Hoffnung. Er verlässt seinen Platz vor dem Fernseher kaum noch und redet abendelang voller Euphorie von einem freien Syrien, das er mit Frau und Tochter bald besuchen will. 

Leyla wird währenddessen langsam erwachsen, macht Abitur und versucht, ihr eigenes Leben zu führen. Während Leyla mit Freunden feiert und zum Studium nach Leipzig zieht, verschlimmert sich die Lage in Syrien von Tag zu Tag. Die Aufstände des „Arabischen Frühlings“ werden niedergeschlagen, die Eziden erleben mehr grausame Willkür denn je. Und Leyla merkt immer stärker, wie sehr ihre ezidisch-kurdische Familie Teil ihrer selbst ist. Fast körperlich empfindet sie das Leid, das den Eziden während des syrischen Bürgerkriegs und des Terrors durch den „Islamischen Staat“ widerfährt. 

Ronya Othmann erzählt aus persönlicher Perspektive, wie das Weltgeschehen einer jungen Frau, die halb Deutsche und halb Kurdin ist, keine Ruhe mehr lässt. 

Auch den Leser lässt das Buch am Ende unruhig werden. Man will mehr erfahren über Situation der Eziden, über ihre Verfolgung und die politische Willkür, die ihnen seit Jahrhunderten widerfährt. Und ähnlich wie die Protagonistin hat man das Gefühl, etwas tun zu müssen. Ronya Othmann hat ein Stück moderne politische Literatur ohne Dogmen und Ideologien geschaffen, das den gesunden Menschenverstand anspricht und dabei emotional tief berührt. Ein erzählerisch und inhaltlich gelungenes Debüt. 

Ronya Othmann: „Die Sommer“, Hanser, 287 Seiten, 22 Euro, E-Book 16,99 Euro

Lesung am Donnerstag, 4. Februar 2021, Bücher Hacker, Fürstenriederstraße 44

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung vom 21.8.2020 erschienen.