Zwischen Staatsverweigerern

Anna Burns‘ faszinierender Roman „Milchmann“ ist ein Bürgerkriegsdrama, eine Coming-of-Age-Geschichte und eine bitterböse Gesellschaftssatire.

„Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb. Er wurde von einem staatlichen Mordkommando erschossen, und der Tod dieses Mannes war mir herzlich egal.“ 

Was hier wie ein Noir-Krimi beginnt, ist der Roman „Milchmann“, der nordirischen Autorin Anna Burns, der 2018 den hochdotierten Booker-Preis gewonnen hat. Man könnte das Buch, das jetzt auf deutsch erschienen ist, hinsichtlich seiner Dramaturgie tatsächlich als Thriller bezeichnen. Es ist jedoch viel mehr als das: ein Bürgerkriegsdrama ebenso wie eine Coming-of-Age-Geschichte, ein politischer Roman ebenso wie eine poetische Erzählung voller Verfremdungseffekte, eine berührende Geschichte von zwischenmenschlicher Brutalität ebenso wie eine bitterböse Gesellschaftssatire, eine Erzählung von weiblicher Selbstbehauptung ebenso wie ein beeindruckendes Psychogramm einer Gesellschaft im permanenten Ausnahmezustand. 

Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau, der ein wesentlich älterer Mann nachstellt. Dem Ort des Geschehens gibt die Autorin keinen Namen; seine Beschreibung lässt jedoch an Burns‘ Heimatstadt Belfast zur Zeit der bewaffneten Unabhängigkeitskämpfe Ende des 20. Jahrhunderts denken. Auch die Figuren tragen lediglich Funktionsbezeichnungen wie Schwester 1, 2 und 3 oder Vielleicht-Freund. Wiedergegeben wird die Handlung jedoch aus der Ich-Perspektive der Protagonistin. Burns wählt also eine Erzählstrategie, die gleichzeitig Nähe und Distanz schafft und dem Roman bei all seiner Detailverliebtheit etwas Allgemeingültiges und Exemplarisches verleiht.

Die Protagonistin ist 18, lebt mit ihrer Mutter und drei jüngeren Schwestern in einem Bezirk, der als Verweigererhochburg gilt. Der Konflikt zwischen den sogenannten „Staatsbefürwortern“ und „Staatsverweigerern“ ist allgegenwärtig, wie eben in Nordirland vor dem Waffenstillstandsabkommen von 1998. Das große Feindbild der Verweiger ist „das Land auf der anderen Seite der See“, also Großbritannien. Irisch-nationalistische Paramilitärs werden von der Gesellschaft als Helden verehrt und von den staatlichen Sicherheitskräften verfolgt. 

Die Ich-Erzählerin nun wird plötzlich immer wieder von einem ranghohen Paramilitär mit dem Decknamen „Milchmann“ behelligt. Der jungen Frau ist unklar, wieso sich Milchmann ausgerechnet für sie interessiert, die doch stets versucht, sich unauffällig und unpolitisch zu geben. Immer wieder stellt sie sich die Frage, ob man überhaupt von Belästigung sprechen könne, solange es nie zu irgendeiner Art von Handgreiflichkeit komme. Wahrhaft beklemmend wird das Ganze durch die unbarmherzige Gerüchteküche des Viertels, die die Protagonistin in der öffentlichen Wahrnehmung tatsächlich zur Geliebten des Paramilitärs werden lässt. 

So düster dieser Plot anmutet, so erfrischend und voller Sprachwitz wird er wiedergegeben. Burns lässt ihre Heldin assoziativ erzählen und kunstvoll vom Hundertsten ins Tausendste kommen. In konkrete Situationsbeschreibungen mischen sich detailreiche Schilderungen des alltäglichen Lebens im Bürgerkriegsgebiet und tragikomische Anekdoten über Familienangehörige und andere Mitglieder der Verweigerer-Community. Brutale Gewalt und politische Morde sind ebenso präsent wie schildbürgerhafte Willkür und absurd-witzige Wendungen des Schicksals. 

Anna Burns hat einen großen, trotz seiner erkennbaren historischen Verortung zeitlosen Roman geschrieben. Und sie hat eine intellektuell strahlende Protagonistin geschaffen, die sich in ihrem Versuch, in all dem Chaos eine Art selbstbestimmter Normalität zu leben, über Gewalt, Willkür und Unterdrückung erhebt. Eine sehr gewinnbringende Lektüre!

Anna Burns: „Milchmann“, Klett-Cotta Tropen, 448 Seiten, 25 Euro, E-Book 19,99 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung erschienen.