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Sorj Chalandons Roman „Wilde Freude“ ist eine Parabel über Freundschaft und Selbstachtung

Vier Frauen, die wenig zu verlieren und viel zu gewinnen haben, planen, einen Juwelier zu überfallen. Bis zuletzt ist unklar, ob sie dabei geschnappt werden oder doch auf wundersame Weise entkommen. Der Plot von Sorj Chalandons Roman „Wilde Freude“ erinnert ein wenig an den deutschen Film „Bandits“, in dem Katja Riemann, Jasmin Tabatabai, Nicolette Krebitz und Jutta Hoffmann Ende der 1990er Jahre als im Rehabilitationsprogramm gegründete Band aus dem Gefängnis fliehen. 

Ganz so glamourös beginnt die Geschichte bei Chalandon nicht: Die Protagonistin Jeanne, die Jahre zuvor bereits ihren kranken kleinen Sohn beim Sterben begleitet hat, bekommt die Diagnose Brustkrebs und wird daraufhin auch noch von ihrem Mann verlassen, weil der sich der Situation nicht gewachsen fühlt. Die ersten 90 Seiten des Buches, auf denen man immer wieder Zeuge des lieblosen Verhaltens von Jeannes Ehemann wird, sind emotional stellenweise schwer zu ertragen. Man fragt sich, warum diese Frau – ob nun krank oder nicht – das alles mit sich machen lässt. Was dann folgt, ist jedoch eine Reihe von kleinen Ermächtigungsgesten. Die verändern zunächst einmal nicht viel, mit der Zeit jedoch erschaffen sie eine ganz andere, selbstbewusstere und vor allem im Hinblick auf das eigene Schicksal aktivere Frau. 

Von Sorj Chalandon, der zu den bedeutendsten Journalisten und Schriftstellern Frankreichs zählt und zahlreiche Preise gewonnen hat, ist auf deutsch zuletzt 2019 der Roman „Am Tag davor“ erschienen. Dieses Buch bezieht sich auf ein historisches Grubenunglück im nordfranzösischen Liévin, bei dem im Jahre 1972 42 Bergleute ums Leben kamen. Sorj schafft im Roman einen fiktiven 43. Bergmann und erzählt die Geschichte von dessen Bruder, der – noch Jahrzehnte später vom tragischen Verlust traumatisiert – Rache am damaligen Vorarbeiter nehmen will. Am Ende steht in diesem Roman vieles in Frage, was Anfangs wahr erschien. Aber durch die bewegende Geschichte, die zwischen Anfang und Ende erzählt wird, ist das alles gar nicht mehr so wichtig. 

Auf einen ähnlichen Effekt setzt Chalandon in „Wilde Freude“. Er führt seine Protagonistin in eine Freundschaft mit drei anderen Frauen, von denen zwei ebenfalls Krebs haben und vermeintlich alle auf unterschiedliche Weise ein Kind verloren haben. 

Diese Urtragödie der Mutterschaft versuchen die vier gemeinsam zu kompensieren, indem sie das Kind der einen aus dem Gewahrsam seines grausamen russischen Vaters zurückholen. Dafür benötigen sie 100.000 Euro. Und daraus entsteht der Plan, einen berühmten Juwelier zu überfallen und um Schmuckstücke im Wert von 300.000 Euro zu erleichtern. Dieser tollkühne Coup gibt der Krebsgeschichte plötzlich etwas Glamouröses. Die Frauen werden von Opfern zu Täterinnen. 

Als sich am Ende herausstellt, dass eine der Frauen die anderen die ganze Zeit belogen hat, könnte diese Erkenntnis alles, was zuvor an Verbundenheit, Solidarität und Stärke da war, in den Schatten stellen. Durch eine bewusste Entscheidung der Protagonistingeschieht aber genau das nicht. Jeanne hat beschlossen, im Rahmen der Möglichkeiten selbst Autorin ihres Schicksals zu sein. 

„Wilde Freude“ ist ein kleines feines Buch, das ein wenig wie ein modernes Märchen anmutet und allerlei philosophische Erkenntnis über das Leben in sich trägt. Vorbereitung und Durchführung des Überfalls geben der Geschichte ihr dramaturgisches Gerüst. Vor allem ist „Wilde Freude“ jedoch eine poetische Parabel über Freundschaft und Selbstachtung. 

Sorj Chalandon: „Wilde Freude“, DTV, 288 Seiten, 22 Euro, als Ebook 18,99 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung vom 25.8.2020 erschienen.