Verloren in der Erinnerung

Antonio Muñoz Molinas neuer Roman „Tage ohne Cecilia“ ist von gewohnt erquickender Melancholie.

Antonio Muñoz Molina ist seit seinem 1986 erschienen Debütroman „Beatus Ille“ ein moderner Klassiker der spanischen Literatur. Er hat zahlreiche nationale und internationale Preise gewonnen und ist Mitglied der Real Academia Española. Als Festredner des Ehrengastlands Spanien eröffnet er gemeinsam mit der Schriftstellerin Irene Vallejo die Frankfurter Buchmesse 2022 und stellt dort seinen Roman „Tage ohne Cecilia“ vor.

„Ich habe mich in dieser Stadt niedergelassen, um auf das Ende der Welt zu warten. Die Bedingungen könnten besser nicht sein.“ – Mit diesen Worten beginnt Muñoz Molinas neustes Werk. Der bis zum Ende namenlose Ich-Erzähler ist ein älterer Spanier, der lange in New York gelebt hat. Nun wartet er in einer frisch renovierten und mit New Yorker Besitztümern ausstaffierten Lissabonner Altbauwohnung auf die Ankunft seiner Frau. Cecilia ist eine renommierte Gehirnforscherin, die nun eine Stelle an einem europäischen Institut in Portugal antreten wird, ihr Ehemann ist nach seiner Kündigung Frührentner. Immer wieder betont er, dass er nie wieder arbeiten wird und sich nun endlich ganz auf Cecilia und das Warten auf Cecilia konzentrieren kann.

Das Paar scheint die Entscheidung, New York zu verlassen, gemeinsam getroffen zu haben – aus dem Wunsch nach Entschleunigung und mehr Menschlichkeit heraus. „Den permanenten Druck des New Yorker Lebens wollten wir nicht mehr hinnehmen, diesen hohen Preis, den man zahlt, nur um sagen zu können, sich selbst sagen zu können, dass man in New York wohnt.“

In Lissabon scheint der wartende Ehemann zunächst seine Erfüllung gefunden zu haben – im Warten, Lesen und Einrichten der neuen Wohnung nach dem Vorbild der alten New Yorker Wohnung. 

Der Erzählton ist dabei von einer erquickenden Melancholie. Der Protagonist erinnert sich an schöne und weniger schöne Momente in New York, berichtet vom Chaos und der Weltuntergangsstimmung nach 9/11, die die damals noch frische Beziehung zu seiner Frau schnell enger werden ließen. Vor seinem inneren Auge ziehen nächtliche Spaziergänge im Central Park mit Gesprächen über Glühwürmchen vorbei und volle New Yorker U-Bahnen, in deren Enge er nicht mal ein Buch aus der Tasche ziehen konnte.

Abbildung: Penguin

Muñoz Molina ist ein empfindsam-leidenschaftlicher Flaneur, der die Stimmungen von Städten meisterhaft einzufangen weiß, ohne dabei je ins Klischeehafte abzudriften. Bereits seine Frühwerke wie „Der Winter in Lissabon“ und „Die Geheimnisse von Madrid“ zelebrieren das. 

Im aktuellen Roman „Tage ohne Cecilia“, der in Spanien schon 2019, also deutlich vor Corona, Ukrainekrieg und Energiekrise, erschienen ist, nimmt Muñoz Molina die allgemeine Verunsicherung der letzten zweieinhalb Jahre auf sehr lesenswerte Weise vorweg. Es geht um Verlorenheit in der Zeit, um das Gefühl des Kontrollverlustes, um Rückzug in die Sicherheit des eigenen Zuhauses. Nach und nach wird deutlich, dass in der Gedankenwelt des Ich-Erzählers immer wieder Erinnerungen, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten, miteinander verschwimmen. In seiner Erzählung beginnen sich Unstimmigkeiten und Widersprüche zu häufen. Als Leser zieht man immer mehr in Zweifel, ob Cecilia tatsächlich jemals bei ihrem Ehemann in Lissabon auftauchen wird. 

In wunderbar ausdifferenzierter Sprache (von Willy Zurbrüggen organisch ins Deutsche übertragen) hat Muñoz Molina ein faszinierendes Kammerspiel geschaffen, das in seiner atmosphärischen Dichte alle Weite der Welt in sich trägt. 

Antonio Muñoz Molina: „Tage ohne Cecilia“, Penguin, 272 Seiten, 25 Euro, E-Book 19,99 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung vom 18.10.2022 erschienen.