Postmoderne Heldinnenreise

Theresia Enzensbergers vielschichtiger und klug aufgebauter Roman „Auf See“ erzählt vom Ausbruch einer jungen Frau aus einer technisierten Kunstwelt.

Die 17-jährige Yada lebt mit ihrem Vater isoliert in einer technisch durchstrukturierten Parallelwelt auf einer künstlichen Insel vor der deutschen Küste. Und die nihilistische Künstlerin Helena ist in einer chaotischen Welt auf dem Festland aus Versehen zur Sektenführerin geworden. 

Zu Beginn ihres faszinierend gehaltvollen Romans „Auf See“ schildert Theresia Enzensberger die Lebensrealitäten zweier Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Was sie verbindet, ist anfangs nur die fehlende Selbstbestimmung über das eigene Leben.

Yada bekommt nach der Lektüre geheimer Dokumente auf dem Computer ihres Vaters Zweifel an dessen aufrechten Motiven. Sie beginnt seine Erzählungen über die Gründung des künstlichen Inselstaats in Frage zu stellen. Ging es bei der „Seestatt“ wirklich jemals darum, eine Utopie zu verwirklichen und Menschen ein eigenverantwortliches, vom Festland unabhängiges Leben zu ermöglichen? Im Verborgenen löst sich Yada immer mehr aus den starren Strukturen des Alltags auf der Seestatt und beginnt, ihre Flucht aufs Festland vorzubereiten. 

Zeitgleich findet Helena auf diesem Festland in ihrem Bruder August und dem ehemaligen Sektenmitglied Sophie eine loyale Schicksalsgemeinschaft, die ihr einen Weg aus der Einsamkeit weist.

„Auf See“ ist ein facettenreiches Buch. Es ist futuristischer Krimi und utopische Science-Fiction-Geschichte, postmoderner Roman und symbolistisch-düsteres Weltuntergangsgemälde, absurdes Gesellschaftspanorama und zugleich Ermutigung, jenseits familiärer und gesellschaftlicher Erwartungshaltungen eigene, unbekannte Wege zu beschreiten. 

Zwischen die Kapitel, die von Yada und Helena erzählen, schiebt Enzensberger kurze historische Abrisse über utopische, libertäre, anarchistische oder einfach nur größenwahnsinnig-betrügerische Staats- undGesellschaftsgründungen. Da geht es um den Mythos der Piratenkommune Libertatia, um die erste Sonderwirtschaftszone in der Hamburger Speicherstadt, um den Scientology-Gründer L. Ron Hubbard und um Ernest Hemingways Bruder, der auf einem Floß vor der Küste Jamaikas seinen eigenen Staat proklamierte. Diese Randnotizen der offiziellen Geschichtsschreibung reflektiert Enzensberger auf so zugängliche und lebendige Weise, dass man über jede einzelne gerne mehr erfahren möchte. Die teilweise aberwitzigen Episoden erfüllen im Roman eine doppelte Funktion: Zum einen schaffen sie für den Leser einen ideengeschichtlichen Referenzrahmen für die Bestrebungen von Yadas Vater, zum anderen sind sie als „Archiveinträge“ Teil eines Projekts der Künstlerin Helena. 

Abbildung: Hanser

Tatsächlich leben am Ende des Romans die Protagonistinnen und ihre Weggefährtinnen auch in einer selbstorganisierten Gemeinschaft: Die spontan aus der Not heraus entstandene Zeltstadt im Berliner Tiergarten, in der jede nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen ihren Platz findet, erscheint als anarchistisch-humanistischer Gegenentwurf zum harten, technoiden Seestatt-Projekt von Yadas Vater.

Wie schon in ihrem 2017 erschienenen Debütroman „Blaupause“ über eine junge Architektin in den Anfangsjahren des Bauhaus erzählt Enzensberger nun auch in ihrem zweiten Roman auf ganz unaufgeregte Weise eine kraftvolle Emanzipationsgeschichte. Freiheit und Selbstbestimmung sind in den Büchern der 1986 geborenen Schriftstellerin keine Sache großer Gesten und polemischer Manifeste sondern eine Summe kleiner Entscheidungen. Ihre Protagonistinnen erkennen immer deutlicher, welches der richtige Weg für sie ist und weigern sich immer hartnäckiger, sich davon abbringen zu lassen. 

Wie schon in „Blaupause“ wirkt auch in „Auf See“ nichts beliebig. Alles ist klug durchkonstruiert und folgt einer strengen Dramaturgie. Der aktuelle Roman gliedert sich wie ein klassisches Drama in fünf Akte. Jedes Detail bekommt seine Bedeutung und Motive werden immer wieder aufgenommen. Theresia Enzensberger hat mit Yadas und Helenas Geschichte auf formaler wie auf inhaltlicher Ebene eine äußerst lesenswerte, postmoderne Heldinnenreise geschaffen. 

Theresia Enzensberger: „Auf See“, Hanser, 269 Seiten, 24 Euro, E-Book 17,99 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung vom 2.9.2022 erschienen.