Stärke und Überlebenswille

Andrea Sawatzkis berührender autobiografischer Roman „Brunnenstraße“

Andrea Sawatzki hat Schlimmes erlebt als Kind. In ihrem neuen Roman „Brunnenstraße“ erzählt die Schauspielerin und Autorin, wie sie im Alter von acht Jahren mit ihrer vormals alleinerziehenden Mutter zu ihrem Vater zieht. Was zunächst als hoffnungsvolle Perspektive erscheint, wird bald zum Martyrium: Der Vater erkrankt an Alzheimer und wird immer mehr zum Pflegefall.

Während die Mutter nachts als Krankenschwester arbeitet und tagsüber schlafen muss, steht das Mädchen in der Verantwortung, sich um den immer unselbstständiger werdenden Mann zu kümmern.

Bevor Andrea und ihre Mutter zum Vater ziehen, ist die Mutter jahrelang Geliebte des Vaters, der mit einer anderen Frau verheiratet ist. Andrea kennt ihn nur als Randfigur, die ein paar Mal im Jahr vorbeischaut und im Hotel übernachtet, damit die Leute nicht reden. In ihren ersten acht Jahren führt Andrea ein sehr freies Kinderleben, das heute kaum mehr denkbar ist. Sie ist ständig draußen im Freien und unternimmt eigenständige Erkundungszüge. Wenn ihre Mutter im Schichtdienst arbeitet, kümmern sich Kolleginnen, Bekannte und Nachbarinnen um das Mädchen. Doch scheint sich die Kleine der Liebe und des Vertrauens ihrer Mutter sicher zu sein und in sich selbst eine große Kraft und Stabilität zu tragen.

Der Umzug zum Vater markiert einen Wendepunkt. Er bleibt Andrea fremd und ist strenger und weniger feinfühlig als die Mutter. Bald stellt sich heraus, dass der vormals erfolgreiche Journalist pleite und hoch verschuldet ist. Kurz darauf häufen sich die Anzeichen seiner Alzheimer-Erkrankung. Das zuvor so freie und verträumte Kind Andrea wird zur häuslichen Krankenpflegerin, während die Mutter im Krankenhaus für den den Familienunterhalt schuftet.

Je weiter man in Andrea Sawatzkis Buch liest, desto düsterer erscheint das ganze Szenario: der massige demente Mann, der seine Tochter nicht erkennt und nachts in den Schirmständer uriniert, das Kinderzimmer, voll freilaufender Haustiere und Haustierexkremente, die Nächte, in denen Andrea niemals durchschlafen kann, sondern immer wieder von ihrem hilfsbedürftigen Vater geweckt wird.

Das Mädchen beginnt den Vater zu hassen und malt sich dessen Tod als große Erlösung aus. Mehr als einmal spielt sie mit dem Gedanken, ihn umzubringen – auch um die Mutter von ihrer Bürde zu befreien.

Dennoch gelingt es Sawatzki, dass man bei all dem nie an Verwahrlosung denkt, sondern den Fokus stets auf den Menschen behält: auf dem Mädchen, das sich bemüht zu tun, was seine Mutter von ihm erwartet, auf der Mutter, die den kranken Mann noch immer über alles liebt, und auf dem Vater, der keine Schuld mehr trägt an seinem unerträglichen Verhalten.

All die drastischen Episoden ihres autobiografischen Romans erzählt Sawatzki voller Zuneigung und Wärme. Immer wieder spürt man die tiefe Verbundenheit zur Mutter, die sich zeitlebens abgerackert hat und ihrer Tochter in jungen Jahren doch so vieles mit auf den Weg gegeben hat. Die Liebe des Vaters zu Mutter und Tochter, die für Andrea in ihrem Alltag nicht greifbar ist, klingt in innig formulierten Briefausschnitten an. Vor allem aber öffnet das Buch dem Leser das Herz für seine tapfere junge Protagonistin und ihren unbändigen Überlebenswillen.

In der Vorbemerkung schreibt Sawatzki, dass es sie viele Versuche gekostet hat, diese Geschichte wirklich zu erzählen und dem Kind in ihr zu verzeihen. Gut, dass sie es getan hat. „Brunnenstraße“ ist ein sehr lesenswertes Buch von bewundernswerter Kraft und Offenheit.

Andrea Sawatzki: „Brunnenstraße“, Piper, 176 Seiten, 20 Euro, E-Book 15,99 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung vom 3.3.2022 erschienen