Sie waren einmal eine Familie

Sandra Gugićs sehr lesenswerter Roman „Zorn und Stille“ über die inneren und äußeren Kämpfe einer serbischen Einwandererfamilie

Eine Autofahrt Richtung Norden in sommerlicher Hitze, ein Paar auf dem Weg von Jugoslawien nach Österreich, die Frau auf dem Beifahrersitz kämpft mit der Erschöpfung, bei der ersten Rast erfassen sie Beklommenheit und Zweifel an dieser Reise. Eine andere Frau bei einer Ausstellungseröffnung in einem Berliner Galerie-Loft, nach der Vernissage fotografiert sie dort ihren halbwüchsigen Bruder und ist von seiner Anwesenheit gleichermaßen überrascht und überwältigt.

Das sind zwei der vielen eindrucksvollen Szenen, aus denen die österreichisch-serbische Autorin Sandra Gugić in ihrem Roman „Zorn und Stille“ die Geschichte einer Einwandererfamilie aus Serbien entspinnt. Die Eltern Azra und Sima sind vor Beginn der Jugoslawienkriege nach Wien gekommen, voller Hoffnung auf ein Leben mit ganz neuen Möglichkeiten. 

Zusammen mit ihrer Tochter Billy und ihrem kleinen Bruder Jonas Neven waren sie mal eine Familie, damals als die Eltern noch nicht lange in Österreich und die Kinder klein waren. Immer wieder blitzt diese Vergangenheit in Form von fernen Erinnerungsbildern hinein in die verfahrene Gegenwart. 

In dieser Gegenwart haben die Familienmitglieder einander seit Langem verloren, es gelingt ihnen nicht mehr, Verständnis für die Situation des jeweils anderen aufzubringen. Billy hat früh ihr Elternhaus verlassen, weil sie die Enge im Denken der Eltern nicht mehr ertrug. Sie lernt ihre Freundin, Geliebte und spätere Mentorin kennen und reist als Fotografin rast- und ruhelos durch die Welt. 

Immer wieder wehrt sie die Kontaktversuche ihrer Eltern ab. Einzig ihren Bruder lässt sie ein paar Mal in ihr Leben. 

Als Leser ist man zu Beginn ganz in Billys Welt. Man kann verstehen, dass sie den Einflussbereich der angepassten und fleißigen Eltern verlassen musste. 

Sandra Gugić. Foto Dirk Skiba

Komplexer wird das Bild, als im zweiten und dritten Kapitel zuerst aus Azras und dann aus Simas Perspektive erzählt wird. Hinter den pflichtversessenen Einwanderer-Eltern treten plötzlich die jungen Leute in Erscheinung, die drei Jahrzehnte vorher mit ähnlicher Entschlossenheit wie später ihre Tochter die Enge ihrer Herkunftsfamilien und ihres Heimatlandes hinter sich lassen wollten. 

Schon in ihrem Debütroman „Astronauten“, der 2015 erschienen ist, setzt Gugić unterschiedliche Erzählstimmen als effektvolles Stilmittel ein. Dort stellt sie die verschiedenen Figuren in Sprache und Erzählduktus noch stärker gegeneinander als im aktuellen Buch. Wo sich in „Astronauten“ die Geschichten der verschiedenen Protagonisten immer wieder am Rande berühren, sind sie in „Zorn und Stille“ eng miteinander verwoben. 

Zwei große Tragödien werden im aktuellen Roman durch die Perspektivwechsel offenbar: die Tragödie zwischen Eltern und Kindern, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungen und Lebenserkenntnisse irgendwann nicht mehr nahe kommen können, und die Tragödie anpassungswilliger Einwanderer, die sich vor lauter Fleiß und Pflichtbewusstsein ein Stück weit selbst verlieren. 

Der Titel benennt die beiden den Roman dominierenden Stimmungen: Die Figuren sind alle oft zornig, wütend und aufgewühlt, oft genug gelingt es ihnen jedoch nicht, die Stille zu durchbrechen und Kommunikation und Nähe zuzulassen. Eine stillschweigende Aussöhnung zwischen Mutter und Tochter ist am Ende das, was einer gemeinsamen Aufarbeitung am nächsten kommt.

Dennoch oder gerade deshalb berührt diese kunstvoll zwischen verschiedenen Erzählstimmen und Erinnerungsbildern konstruierte Familiengeschichte tief. 

Sandra Gugić: „Zorn und Stille“, Hoffmann und Campe, 240 Seiten, 24 Euro, als E-Book 16,99 Euro

Dieser Text ist zuvor in der Münchner Abendzeitung vom 6.11.2020 erschienen.